Außerhalb der verschütteten Gräben und Mauern der ehemaligen Veste Schopfen (jetzt Schopfheim) erheben sich uralte Eichen, in deren Schatten die Kinder einen angemessenen Tummelplatz fanden, und worunter auch die Erwachsenen an schönen Abenden oder Sonntagen sich zu geselligen Spielen vereinigten.
Einer milder Septembertag war vorüber, das Geräusch der Geschäfte verstummt, und eine ruhige Stille lag über dem Thal. Durch die Zweige der hohen Eichen flüsterte ein leiser Hauch, sanft, wie die Sprache der Liebe. – Herzinnig nun schlang ein Jüngling ein holdes Mädchen, mit dem er seit etlichen Minuten unter den Eichen lustwandelte.
„Katharina“, sagte der Jüngling, „würdest du mit Johannes, dem Wirth vom Sternen, glücklicher seyn, als mit Georg, dem schlichten Weber?“
„Welche Frage, Georg, nachdem ich dir schon einen Kuss gegeben! Ist er dir nicht das Zeichen meiner Liebe, Schwur und Pfand meiner Treue? Mit dem Manne bin ich glücklich, den ich liebe, mit einem anderen gewiss nicht. Und weißt du schon, was mein Vater heute zu mir gesagt hat?“
Sie standen gerade neben einer Bank, die sich rings um einen dicken Eichenstamm hinzog; Georg setzte sich nieder und zog Katharina auf seinen Schoos. „Rede mein Herz, rede, „ sprach er, und legte seinen Arm über die Schulter der Geliebten.
„Nahe sind wir am Ziele, Georg, näher als du glaubst; unser Glück ist nicht mehr ferne. Heute, als der Vater zum Mittag gegessen und alleine noch am Tisch saß, rief er mich zu sich. Das Herz klopfte mir; doch nahm er freundlich meine Hand und hieß mich sitzen. Katharina, sagte er, ich weiß es, daß du den Georg liebst, den Wirth aber, den Johannes, nicht leiden magst. Du erhältst jetzt auch meine Zustimmung. Deiner Großmutter hast du es zu verdanken; sie hat den Johannes ausgekundtschaftet; er sei im Geheimen ein nichtswürdiger Mensch und habe auch andere Mädchen schon betrogen. Sein neues Wirtshaus in der Vorstadt draußen, die immer mehr Häuser bekommt, gefällt mir zwar, aber ich will doch nicht, daß du die neue Sternenwirthin werdest. Wenn sich der Georg immer so gut hält, so sag ihm, daß er frei in unser Haus kommen darf, ich werde nimmer so unwirsch mit ihm reden. Ich fiel meinem Vater um den Hals und sprang hernach zur Großmutter, sie zu küssen.“
Von dem süßen Glücke naher Zukunft übermannt und von der Freude unerwarteter Wendung berauscht, preßte Georg die Geliebte an seine Brust und bedeckte ihr Gesicht mit heißen Küssen. „Kein Mensch ist reicher, keiner glücklicher, als ich; Katharina, durch dich bin ich es!“ rief er jubelnd. „Aber auch deine Tage will ich verschönen, dein Leben versüßen, mein theures Mädchen, durch unverwelkliche Liebe und ewige Treue, glaub es mir, Katharina!“ Und abermals küßte er den kleinen Mund der Holden.
Die nahe Turmuhr kündete gerade die neunte Stunde, und Katharina mahnte an die Heimkehr. „Noch Eins!“ sagte der glückliche Georg. „Morgen ist Sonntag und der Tag scheint sonnenhell zu werden; wir machen einen Spaziergang an den Eichener See und feiern dadurch den ersten Tag unserer gekrönten Liebe. Und wenn der kleine Weidling auf See frei ist, so kann er uns eine Stunde hin und her tragen.“ Katharina nahm den Vorschlag an und entfernte sich an dem Arme ihres Geliebten, nach dem Hause ihres Vaters kehrend.
Hinter der Eiche trat eine Gestalt hervor, als die Beiden fort waren. „So so!“ rief dieselbe; „Wartet, ich will mich schon rächen!“
An diesem See stunden am Sonntag nachmittage Georg und Katharina. Der Jüngling band den Weidling los und vergnügt stiegen Beide hinein. Mit starker Hand stieß Georg den Nachen vom Land, daß er lustig über das Wasser hinschaukelte. Welch’ Entsetzen! Plötzlich brach die eine Seite des Fahrzeugs zusammen. Mit dem grellenden Schrei, den Katharina ausstieß, sank sie, von Georg umarmt, in die Tiefe des Wassers. Nach einigen Minuten wurden Beide wieder sichtbar. Mit aller Kraft und Anstrengung suchte der Jüngling Katharina mit dem einen Arme über dem Wasser haltend, das Ufer zu erreichen. Vergebens; er sank und mit ihm sein Theuerstes. Das liebende Paar fand vereint, ein großes, naßes Grab, aus welchem sie nimmer zum glücklichen Leben emporstiegen.
Aus dem Walde, der an den See stößt, trat Johannes, der Wirth vom Sternen. „Ich habe mich gerächt!“ sagte er, und sein wüstes Auge sah scheu nach der Stelle, wo seine unglücklichen Opfer untergesunken waren. Der furchtbare Mensch hatte in der Nacht vor dem Sonntag den Weidling so geschickt durchgesägt, daß es ohne genaue Untersuchung nicht bemerkt werden konnte, sodaß sich das Fahrzeug durch die Last von zwei Menschen nach und nach auseinander fügen mußte.
Jedermann bedauerte mit aufrichtigem Herzen die zwei Verunglückten und suchte den vom höchsten Schmerz erfüllten Vater Katharina’s zu trösten. Allgemein schrieb man das Unglück dem Zufall oder der Gebrechlichkeit des Weidlings zu.
In der Nacht, die auf diesen Sonntag folgte, weckte ein furchtbares Geschrei die Bewohner der Vorstadt Schopfheims. Es kam aus einem Fenster des Wirthshauses zum Sternen. „Rettet mich, ihr Leute, rettet mich! Seh’t ihr nicht das Gewässer? Der See ist ausgebrochen – dort kommt er ja – Alles ist verloren! Sie schöpfen ihn aus, weil ich sie hineingeworfen – die Vorstadt wird untergehen!“ Der Schreier wollte durchs Fenster auf die Straße, aber ein hinzugetretener Knecht hielt ihn zurück. Unten versammelte sich eine Menge Menschen. „Was ist mit dem Sternenwirth geschehen – ist er wahnsinnig?“ fragte man sich untereinander. Dem Statthalter, der auch unten stund, war aber das Wort: „Weil ich sie hineingeworfen!“ nicht entgangen. Er trat zu dem Sternenwirth ein. Ein schrecklicher Traum hatte die Sinne des Missethäters verwirrt. Er antwortete auf keine Frage; aber in Einem fort schrie er: „Hätte ich den Georg und des Müllers Katharina nicht hineingeworfen, so könnten sie den See nicht ausschöpfen, und die Vorstadt und mein Haus gingen nicht unter. Rettet mich aus dem Wasser!“
Man wußte genug. Am anderen Morgen wurden die einzelnen Stücke des Weidlings zusammen gefischt. Die Untersuchung brachte die Unthat völlig an den Tag.
Reinhard Reitzel
(bearbeitet von Wolfgang Bühler März 2013)